Wir besuchen die Colonia Dignidad, gelegen südlich von Santiago de Chile. Es beherbergt das vielleicht dunkelste Kapitel in der Deutsch-Chilenischen Beziehung, und verbringen einen Tag auf dem Gelände, um selber einen Eindruck von der historischen Bedeutsamkeit zu erlangen. Am Abend verlassen wir das etwa 30 km² große Areal, parken in der Nähe an einem Fluß – und müssen diese Eindrücke, müssen das, was wir in den vergangenen Stunden erfahren und gelernt haben, erst einmal verdauen und verarbeiten. Gehört es zu den bewegendsten und emotionalsten Momenten unserer Reise.

Wir sind Kinder des Jahres 1970, und die Geschichte der Colonia Dignidad begann bereits 1960 und endete Ende der 1980er Jahre, somit konnten wir die Tragweite und die Tiefe der Geschehnisse nur aus Teenagerzeiten betrachten. Unter https://de.wikipedia.org/wiki/Colonia_Dignidad findet sich eine ausführliche historische Beschreibung der Geschehnisse, die ich in abgekürzter Form in Auszügen daraus gerne wieder gebe:

Im Jahr 1956 gründeten der ehemalige evangelische Jugendpfleger Paul Schäfer und der aus der Gronauer Baptistengemeinde ausgeschlossene Prediger Hugo Baar in Heide bei Siegburg die „Private Sociale Mission“, ein Erziehungsheim für Kinder von Gruppenmitgliedern. Die Trennung von der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde Gronau, bei der sich 35 von 93 Ehepaaren Paul Schäfer anschlossen, erfolgte zur Jahreswende 1959/1960.

Wegen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen Schäfer aufgrund von Anzeigen wegen Vergewaltigung von zwei Jungen floh er 1961 mit ca. 150 Mitgliedern der Gruppe nach Chile und gründete die Colonia Dignidad.

Offizieller Zweck war die Betreuung von Kindern, die durch das Erdbeben von Valdivia 1960 zu Waisen geworden waren. Ende des Jahres erwarb die Gemeinschaft allerdings das Gut El Lavadero rund 500 Kilometer nördlich des Erdbebengebiets. Im September 1961 erfolgte die Anerkennung der Gemeinnützigkeit.

In Chile baute die Gruppe eine Kolonie auf, in der sie streng abgeschottet von der Außenwelt lebte und nur ausgewählte Besucher empfing. Die Siedler konnten lange Zeit fast autark leben, da sie ein „Mustergut“ aufgebaut hatten, für das sie viel Bewunderung ernteten. Trotz dieser Abschottung baute die Sekte durch Geschenke und Gefälligkeiten Unterstützernetzwerke auf, die sie gegen staatliche Ermittlungen und journalistische Recherchen abschirmte.“

Von Beginn an wurde von der Colonia Dignidad für die lokale Bevölkerung ein Krankenhaus errichtet, welches hohes Ansehen genoss und von den Mitgliedern der Gruppe betrieben wurde.

Doch die Kehrseite durch den pädophilen Leiter Paul Schäfer waren Misshandlungen von eigenen Gruppenmitgliedern sowie von chilenischen Kindern, die in der Obhut der Sekte im Glauben von Betreuung und Genesung untergebracht wurden.

Protegiert von der chilenischen Pinochet-Diktatur machte sich die Colonia Dignidad zu deren Instrument. Die Kolonie wurde während der Diktatur als Folterzentrum des chilenischen Geheimdienstes genutzt. Folter und Mord an politischen Gefangenen zwischen 1973 und 1990 sind mannigfach belegt. In der Colonia Dignidad gefangen gehaltene Chilenen wurden als Zwangsarbeiter eingesetzt. Es wurden medizinische Versuche an Häftlingen durchgeführt. Bekannt wurde auch, dass in der Kolonie Häftlinge ermordet und im Waldgebiet verscharrt worden waren und dass die Sektenführung die Reste später hatte ausgraben und entsorgen lassen.“

Wie passen all diese Geschehnisse in die heutige Zeit? Seit 1988 wird auf die Bezeichnung Colonia Dignidad (Kolonie Würde) verzichtet, das Areal nennt sich Villa Baviera.

Ohne Anmeldung erreichen wir die Villa Baviera und fragen eine mögliche Führung für den Tag an. Da wir die einzigen Gäste sind, jetzt in der Nebensaison im Herbst, verabreden wir für den Nachmittag eine Museumsführung. Somit verbleibt uns einige Zeit zum Warten, die wir für einen Rundgang nutzen.

Auf dem Weg zum Friedhof treffen wir Günter, Mitte 60, freundlich und ein Kind der ersten Stunde. Er freut sich über deutschen Besuch und an unserem Interesse an der Geschichte. Schnell steigen wir tief in die Vergangenheit ein, erfahren von Ihm warum es nach 30 Jahren in der Kommune nicht so einfach möglich ist wieder in die „reale“ Welt zurückzukehren. Ohne Schulausbildung, nur mit anerkanntem Grundschulabschluss, sind die beruflichen Entwicklungschancen klein.

Vor unserem Baloo steht Thomas, ein 20jähriger Chilene mit Einschränkungen, der uns freimütig von seiner Adoption durch deutsche Eltern auf dem Gelände erzählt und staunt – wow, was ein großer Laster.

Am Ententeich treffen wir Sergio, ein Endsechziger auf seinem Elektro-Sitzroller. Seit seinem ca. 10. Lebensjahr lebt er in der Gemeinschaft, abgegeben von seinen chilenischen Eltern. Sie konnten ihm mit seiner Kinderlähmung nicht helfen und erhofften sich im hiesigen Krankenhaus eine bessere Betreuung. Ein fröhlicher, positiver Mensch, der auf dem Gelände den Müll einsammelt.

Es gesellt sich Robert, auf dem Fahrrad kommend, zu uns. Er erläutert uns seine Familienverhältnisse, sein Vater mit 98 Jahren lebt wieder hier auf dem Gelände nach einigen Jahren in Deutschland, manche Geschwister leben verstreut in Chile, manche in Deutschland.

Kleine Geschichten, Puzzleteile, die uns Erika, unsere Museumsführerin, am Nachmittag in geduldigen 2 ½ Stunden zu einem großen Ganzen zusammenfügt. Erika kam im Alter von 2 Jahren auf dem ersten Schiff in Valparaiso an und war somit eines der jüngsten Gründungsmitglieder der Colonia Dignidad.

Sobald die Kinder arbeitsfähig wurden, waren Frondienste von früh morgens bis in den späten Abend die Regel. Aus „Platzmangel“, und um die arbeitenden Eltern zu entlasten, wurden Kindergruppen gebildet und separat betreut. Im weiteren Schritt wurden dann einige Zeit später rigorose Trennungen vorgenommen. Frauen wurden von Männern getrennt, Mädchen von den Jungen. Eltern durften keinen Kontakt mehr zu ihren Kindern aufrechterhalten. Verfehlungen wurden drakonisch bestraft. Erika, liebebedürftig und mit dem Wunsch die Eltern zu sehen, wurde wie alle anderen Kinder ebenfalls rigoros eingenordet. Im Alter von ca. 8 / 9 Jahren wurde ihr nach einem wenige Minuten anhaltendem Treffen mit ihrer Mutter auf der Straße eine Elektroschockbehandlung zuteil. So gravierend, dass ihr Gedächtnis annähernd „ausgelöscht“ wurde und sie viele Dinge des täglichen Lebens neu erlernen musste.

Eine weitere Strafprozedur, die im Laufe der Jahre wöchentlich stattfand, lief wie folgt ab: Ein Mitglied wurde denunziert, weil er angeblich etwas falsch gemacht hat. Die Bestrafung durch Paul Schäfer lautete: Prügel durch 2 willkürlich ausgesuchte andere Mitglieder. Und wenn die Züchtigung nicht ordentlich durchgeführt wird, dann werden die Prügelnden zur Rechenschaft gezogen.

Trotz all der Maßregelungen, so beschreibt es Erika, wurde das Leben in der Kommune aber als durchaus glücklich und lebenswert betrachtet. Musikalische Veranstaltungen, Gruppentreffen sorgten für Abwechslung, und auch die Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit wurde immer wieder in den Vordergrund gestellt. Das die geschaffenen Rahmenbedingungen menschenunwürdig waren, dass viele der Verfehlungen durch Paul Schäfer rechtswidrig waren, all dies wurde erst nach dessen Verhaftung überhaupt erst bekannt.

Die Freiwilligenarbeit im Krankenhaus wurde von allen Mitgliedern hochgeschätzt, und vielerorts wurde erst am späten Abend, nach der Fronarbeit auf dem Feld, für einige Stunden weitergearbeitet. Und Arbeit gab es genug, zählten doch Brandverletzungen zu den häufigsten Behandlungen der chilenischen, einfachen Landbevölkerung. In den einfachen Lehmhütten fiel des Öfteren ein Kind versehentlich ins Heizfeuer und benötigte bei Verbrennungen dringend Hilfe.

Die Trennung von Mann und Frau auf dem Gelände unterdrückte fast jede Form von Sexualität. Dies hatte zur Folge, dass zum einen die Pädophilie Paul Schäfers mit Jungen gegenüber den Erwachsenen versteckt werden konnte. Er war schließlich nur ein „liebevoller Vater für alle“. Des Weiteren gab es keinerlei sexuelle Aufklärung. Die schockierende Erzählung von Erika, die bis zu ihrem 38. Lebensjahr nicht wusste wie Kinder auf die Welt kamen, bestätigte, wie perfide das Unterdrückungssystem in der Kommune durch Paul Schäfer funktionierte.

Viele Geschehnisse auf dem Gelände der Siedlung, von den Folterungen politischer Gefangener durch den chilenischen Geheimdienst, bis zu den Misshandlungen interner und externer Bewohner, blieben einigen langjährigen Bewohnern vor Ort verborgen. Bis auf den Kopf, Paul Schäfer, waren – wenn wir Erikas Erzählungen richtig interpretieren – alle anderen zugleich Täter wie auch Opfer.

Rund 120 Menschen leben nach wie vor auf dem Gelände der Villa Baviera, sie werden, wenn eine Enteignung durch die chilenische Regierung vermieden werden kann, nach 65 Jahren auf dem Grundstück, ihre letzten Jahre hier verbringen. Das Leiden, das sich die Mitglieder auf Anordnung Paul Schäfers gegenseitig angetan haben, scheint verziehen zu sein. Es herrscht Achtsamkeit und ein soziales Gefüge, das der schönen Umgebung zu den Füßen der Andenberge würdig ist. Zumindest heute ist der Name von früher Programm.

 

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